Eigentlich seltsam, wenn man nach der Lektüre zahlreicher Kritiken das Gefühl bekommt, einen Film verteidigen zu müssen, der erst vor wenigen Wochen mit 8 Oscars ausgezeichnet wurde. Darunter nicht zuletzt die Trophäen für den besten Film und die beste Regie. Und dennoch wurde Danny Boyles Slumdog Millionaire von diversen Feuilletons hart angegangen. Der Vorwurf: Der Film nutze die soziale Lage der Slumbewohner Mumbais als Kulisse für eine kitschige Romanze. Stehen lassen kann man das so nicht, denn als postmoderne Märchenerzählung zitiert der Film ganz einfach klassische Vorlagen, erzählt aber vor allem eine packende Geschichte.
Mal ehrlich: Nehmen wir "Hänsel und Gretel". Das Märchen erzählt von einem Geschwisterpaar, dass von den Eltern in den Wald geschickt wird, weil es nicht genug zu essen für die ganze Familie gibt. Sie kommen zum Hexenhaus, werden gefangen genommen und entkommen nach allerhand Abenteuern. Das Ganze findet ein Happy End, die Eltern schließen ihre Kinder wieder in die Arme. Kann sich jemand daran erinnern, dass irgendein Feuilletonist dem Autor den Vorwurf gemacht hat, die Armut der ländlichen Bevölkerung als pittoreske Kulisse für eine grausame Abenteuergeschichte auszunutzen? Vermutlich nicht. Und genau aus diesem Grund ist es wenig nachvollziehbar, warum Slumdog Millionaire, dessen Geschichte den klassischen Märchen-Plots sehr ähnlich ist, nicht ebenfalls das Recht haben sollte, seine Geschichte in einem Milieu anzusiedeln, das von Armut und sozialer Benachteiligung gekennzeichnet ist.
Hauptfigur des Films ist Jamal, ein Junge aus den Slums der indischen Mega-City Mumbai. Die Stationen seiner Sozialisation lauten Müllkippe, Unterwelt - und schließlich die glitzernde Fernsehwelt. Denn Jamal ist Kandidat in der indischen Version von Wer wird Millionär? und schafft es entgegen aller Erwartungen, die Million zu gewinnen. Das ist aber nur die Rahmenhandlung. Denn warum Jamal in der Lage ist, alle Fragen korrekt zu beantworten, wird in zahlreichen Rückblenden erzählt, die sein Leben bis zum großen Tag im TV-Studio rekapitulieren. Und gerade in der ersten Stunde schafft es Boyles Film mit einem beeindruckenden Stilmix aus verwackelter Handkamera und klassischen Panorama-Einstellungen einen Sog zu entwickeln, der den Zuschauer förmlich auf die staubigen Straßen Mumbais zwingt. Zwar verzichtet der Film darauf, die Armut und die Gewalt der Slums allzu grafisch darzustellen, dennoch gelingt es ihm, die Lage der Ärmsten der Armen fühlbar zu machen. Damit nutzt der Film deren Situation aber nicht aus, vielmehr schaffen es Boyle und sein Kameramann Anthony Mantle mit den Mitteln des modernen Erzählkinos auf ein akutes Problem aufmerksam zu machen, ohne in einen dozierenden Gestus zu verfallen, der den Spaß am Zuschauen verdirbt. Slumdog Millionaire ist keine Sozialreportage, sondern ein Spielfilm.
Zugegeben: Der Film ist am besten in den Szenen, in denen er mehr Unterweltepos als Auftsteiger-Geschichte ist. Die Intensität, die er unter den Wellblech-Dächern der Hüttensiedlung entwickelt, kann er in den TV-Studio Szenen nicht ganz aufrecht erhalten. Was auch daran liegen kann, dass die grobkörnigen Gegenlichtaufnahmen vom Anfang gelungener sind, als die wohlkomponierten Hochglanzbilder in der zweiten Hälfte. Dass das Ende dann arg kitschig ist - geschenkt. Denn schließlich handelt es sich um ein Märchen. Kann sich irgendjemand daran erinnern, dass sich jemand über Schneewittchen abfällig geäußert hat, weil das Ende kitschig ist? Slumdog Millionaire hat darunter gelitten, dass viele Filmkritiker enttäuscht waren, weil er nicht der Film war, den sie sich unter dem Titel vorgestellt haben. Und wahrscheinlich auch darunter, dass sich wirkmächtige indische Intellektuelle wie Salman Rushdie kritisch geäußert haben, weil Menschen in den indischen Ghettos mit dem Begriff "Slumdog" herabgewürdigt würden. Gut zu wissen, dass das internationale Kino-Publikum gegenüber dem wilden Genre-Mix weniger Vorurteile hatte und Boyle einen Blockbuster beschert hat.
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