Donnerstag, 23. April 2009

Cindy Sherman - Rebellion und Reflexion

Schön sind sie nicht gerade, die fotografischen Porträts mit denen die US-Fotografin Cindy Sherman gegen Schönheitsideale und Rezeptionsgewohnheiten gleichermaßen rebelliert. Dafür eröffnen sie dem aufgeschlossenen Betrachter die Möglichkeit, die eigenen Betrachtungsgewohnheiten konsequent zu hinterfragen. Nicht selten entdeckt so mancher aufgeklärte Wohlstands-Westler dabei, dass auch seine Herangehensweise auf kulturellen Konfigurationen beruht, die sich seiner bewussten Reflexion bislang entzogen haben. Begriffe wie "schön", "hässlich" oder "sexy" entpuppen sich dabei als Worthülsen, deren Semantik in kulturellen Interaktionsprozessen immer wieder neu festgelegt wird. Ganz im Post-Strukturalismus verwurzelt, machen Shermans Fotografien auf diese Bedeutungsveränderungen aufmerksam und betonen so letztendlich auch die Macht des Subjekts als Bedeutungsproduzent: Schön ist, was wir als schön bezeichnen. Am Ende steht die Utopie der Befreiung von den starren Schönheitsidealen der post-modernen Welt.

Weniger ungemütlich, aber keineswegs von geringerer analytischer Schärfe sind die als Untitled Film Stills bezeichneten Aufnahmen. Sherman posiert hier in Fotografien, die wie Standbilder aus Hollywood-Filmen wirken. Hitchcock, Kubrick, Nouvelle Vague sind die ersten Assoziationen. Betrachtet man die Fotografien, spult sich vor dem inneren Auge die aus zahlreichen Kino-Klassikern bekannten Handlungslinien ab. Und mit den klassischen Plot-Strukturen evozieren die vertrauten Szenerien auch die klassischen Charakterzeichnungen und Rollenmuster. Shermans Methode ist hier die einer cross-medialen Analyse: Fotografie untersucht Film. Wie nebenbei führen die Fotografien hier die Konventionen des narrativen Kinos vor und halten dem Betrachter erneut seine Rezeptionsgewohnheiten vor Augen.


Mittwoch, 22. April 2009

Der Serienkiller-Film als Philosophie-Lektion


Es müssen nicht immer Independent-Produktionen sein. Auch das Hollywood-Kino kann tiefgründige Geschichten auf eine ungewöhnliche Art und Weise erzählen. Manchmal sogar mit intellektuellem Anspruch. David Finchers fulminanter Thriller Zodiac ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel.

Seit seinem Neo-Noir Se7en gilt David Fincher als Spezialist für Serienkiller. Die Geschichte um den Mörder John Doe, der seine Opfer gemäß dem biblischen Motiv der sieben Todsünden umbringt, zugleich ein ungemein düsteres Porträt einer dekadenten urbanen Gesellschaft, wurde von Kinogängern wie Kritikern schon kurz nach seiner Premiere in den Rang eines kanonisierten Klassikers erhoben.
Se7en blieb vielen Zuschauern vor allem aufgrund seiner detalliert ausgearbeiteten Tatortkulissen und der perfiden Mordmethoden des Killers wegen im Gedächtnis. Dabei zeigte schon Finchers zweiter Film, trotz der äußerst grafischen Darstellung und der Konzentration auf die Motive des Mörders, ein deutliches Interesse an den Figuren, die in Zodiac nun im Fokus der Erzählung stehen: den Ermittlern. Der Film ging aber noch nicht so weit, die narrativen Konventionen des Genres auf den Prüfstand zu stellen: Die beiden Detectives stellen Nachforschungen an, setzen Hinweise zusammen. Auch wenn, soviel sei zugegeben, sie nur die Hinweise entdecken, die ihnen der Mörder wie Brosamen auslegt. Zodiac hingegen klopft das Genre des Kriminalfilms klassischer Machart auf seine philosophischen Grundlagen ab.
Dabei lässt der Film zu Beginn anderes vermuten. Denn zunächst bekommt der Zuschauer eine blutige Mordsequenz an einem jungen Paar zu sehen, die in ihrerExplizitheit Se7en alle Ehre gemacht hätte. Allerdings passieren die Gewalttaten des Killers allesamt im ersten Drittel des Films. Danach konzentriert sich die Erzählung vollkommen auf die beiden Protagonisten: den Cartoonisten Robert Graysmith (Jake Gyllenhaal) und den Reporter Paul Avery (Robert Downey Jr.), beide beschäftigt beim San Francisco Chronicle. Das Duo macht sich daran, den Fall zu lösen, vor allem die kryptischen Buchstabenrätsel, die der Killer an die Redaktion des Regionalblattes schickt. Es beginnt eine Jagd, die, je länger sie dauert, immer unübersichtlicher wird. Jeder Hinweis, jeder neue Brief des Killers, jedes neue Verhör führt nur dazu, dass sich die Spuren vervielfältigen und der Fall immer komplexer wird. Eine Lösung rückt in immer weitere Ferne. Die beiden Protagonisten gehen mit dieser frustrierenden Erfahrung unterschiedlich um. Während Avery schlicht kapituliert und Trost im Alkohol sucht, kann sich Graysmith nicht mit der Situation abfinden. Die Spurensuche wird zur Obsession, an der seine junge Familie zerbricht.
Es ist kein Zufall, dass die beiden Helden des Films investigative Journalisten sind. Die beiden Pressevertreter sind in Finchers Film Repräsentanten einer erkenntnistheoretischen Allmachtsfantasie. Sie sind unbestechliche Sucher der Wahrheit, Aufklärer und Welterklärer. Ganz im Gegensatz zum Polizisten David Toschi (Mark Ruffalo), der weniger idealistisch (ideologisch?) als vielmehr pragmatisch an den Fall herangeht und irgendwann akzeptiert, dass es keine eindeutige Lösung gibt. Das kann Graysmith nicht. Denn in der Welt von Zodiac gibt es keine objektive Wahrheit, keine Lösung, keinen Schlusspunkt, an dem alle losen Enden miteinander verknüpft werden. Es gibt nur Hinweise und Indizien, der Rest ist Interpretation. Der Rationalismus als herrschende Philosophie und Ideologie befindet sich in einer Sackgasse, seine Vertreter müssen daher notgedrungen scheitern.
Als Medien- und Zeitungsfilm zitiert Fincher übrigens meisterhaft Klassiker der Siebziger Jahre wie Alan J. Pakulas All the President's Men; die Szenen in den Redaktionsräumen des SF Chronicle gehören zu den atmosphärischsten des gesamten Films. In den Vorbildfilmen genoss der Journalist noch eine moralische und intellektuelle Sonderstellung, galt als Institution der Wahrheit. In etwa vergleichbar den klassischen Detektiven der Literaturgeschichte wie Edgar Allan Poes C. Aguste Dupin oder Sherlock Holmes. Wie sehr sich sein Status geändert hat, zeigte 1999 schon Michael Mann in The Insider. Hier kennt der Reporter die Wahrheit, kann sie jedoch nicht veröffentlichen. Zodiac geht noch einen Schritt weiter: er führt die Vergeblichkeit der gesamten Wahrheitssuche vor.
David Finchers Film ist trotz all dieser philosophischen Implikationen kein sperriges Arthouse-Traktat. Sondern vielmehr Spannungskino der intensiven Sorte. Wenn etwa Jake Gyllenhaal sich im letzten Drittel des Films auf der Jagd nach neuen Hinweisen im Keller eines Verdächtigen wieder findet, weiß Zodiac mit dem kalkulierten Einsatz klassischer Thriller-Elemente zu überzeugen. Der sich mit dem Cartoonisten Graysmith identifizierende Zuschauer fühlt dessen Unbehagen ob der Undurchschaubarkeit des dubiosen Kellerbesitzers geradezu mit - und ist erleichtert, wenn er dann endlich die Treppe hoch rennt, um aus der vermeintlichen Todesfalle zu entkommen.
Am Ende gelingt es Graysmith, die Indizien so zu ordnen, dass er einen Tatverdächtigen ermitteln kann. Ja, er steht ihm sogar Auge in Auge gegenüber. Es gelingt ihm jedoch nicht, einen überführenden Beweis zu finden. Und so entlässt der Film nicht nur seinen Helden ohne abschließende Antwort, sondern auch den Zuschauer. Der wird damit, so ganz nebenbei, auf seine an zahllosen Thrillern geschulte Erwartungshaltung zurück geworfen - und erhält so die Chance, die eigene Perspektive zu erweitern.
Letzten Endes ist Zodiac ein selbstreflexiver und selbstbewusster Thriller, der die narrativen und strukturellen Konventionen des Genres ex negativo vorführt und einen kritischen Blick auf die Philosophie wirft, die ihm zugrunde liegt. Natürlich auf die Gefahr hin, den einen oder anderen Zuschauer zu enttäuschen. Für aufgeschlossene Geister ist der Film aber in jeder Hinsicht ein Gewinn. Tritt er doch den Beweis an, dass das Hollywood-Kino durchaus intellektuelle Herausforderungen bereithalten kann - ohne, dass der Zuschauer auf eine spannende Geschichte verzichten muss.

Dienstag, 21. April 2009

Honig für das Ohr



Klar, der Bandname Kings of Convenience ist vergeben. Verdient hätte ihn aber definitiv auch das Duo Kruder & Dorfmeister. Denn was die beiden in der Vergangenheit aus ihren Mischpulten und Soundmaschinen gezaubert haben, ist wie kaum eine andere Musik dazu geeignet, nachts im Dunkeln auf dem Sofa zu relaxen. Oder in den frühen Morgenstunden, auf der Motorhaube sitzend den Sonnenaufgang zu erleben. Das gilt im Übrigen auch für die zahlreichen Nebenprojekte der beiden Musiker, von denen Richard Dorfmeisters Tosca zu den besten gehört. Das grandiose "Honey" beweist das allemal - ein tolles Video gibt es als Zugabe obendrein.

Montag, 20. April 2009

Hilflose Medienanalyse


Eigentlich sollte er wissen wovon er spricht, denn immerhin ist Paul E. Steiger ehemaliger Chefredakteur des Wall Street Journal und heute Leiter des unabhängigen Redaktionsbüros ProPublica mit Sitz in Manhattan, das sich der investigativen Recherche verschrieben hat. In Wozu noch Zeitungen?, dem lesenswerten Interviewband der deutschen Journalisten und Medienwissenschaftler Stephan Weichert, Leif Kramp und Hans-Jürgen Jakobs, formuliert Steiger jedoch eine seltsam hilflos wirkende Daseinsberechtigung der guten alten Zeitung angesichts des medialen Funktionensynkretismus des Internets.

Print biete den Vorteil, dass es "einen Anfang, eine Mitte und ein Ende gibt". Außerdem könne man Zeitungen überall mit hinnehmen, es handele sich um abgeschlossene Gebrauchsanleitungen, die über alles Wichtige informierten. Im Internet dagegen finde sich immer noch ein weiterer Link, den man anklicken könne. Steiger vergleicht hier Äpfel mit Birnen: Eine Zeitung ist nicht mit dem Internet zu vergleichen, höchstens mit dem Online-Auftritt eines Mediums oder einer Online-Zeitung. Auch hier finden sich Anfang, Mitte und Ende. Wenn ich Links finde, die ich anklicken kann, ist das in etwa dasselbe, als wenn ich mir in einem weiteren Print-Magazin zusätzliche Informationen besorge, die ich in der Zeitung nicht finden konnte. Finde ich im Netz bei einer Recherche kein Ende, ist nicht das Internet Schuld, sondern mangelnde Medienkompetenz und Selbstkontrolle.

Mittlerweile sind Internet-User auch lokal nicht mehr gebunden, das dürfte selbst der 1942 geborene Steiger mitbekommen haben. Spätestens seit Blackberry und iPhone, können Nachrichten und Informationen überall abgerufen werden. In Zukunft wird das dank neuer User-Endgeräte sogar noch einfacher sein. Widersprüchlich wird Steiger schließlich, wenn er der gedruckten Zeitung bescheinigt, sie mache auf Dinge aufmerksam, von denen man gar nicht wusste, dass sie einen interessieren. Aber ist das nicht gerade die Funktion von Links? Und gibt es diese Art von Verweisen nicht vor allem im Internet? Was Steiger also schon für Printmedien diagnostiziert, gilt vor allem für elektronische, denen es wesentlich leichter fällt, auf externe Inhalte zu verweisen, die man vorher nicht kannte und von denen man nicht dachte, dass sie thematischen Reiz besitzen.

Fazit: Nicht nur Star-Journalisten wie Paul Steiger fällt es schwer, den Wert gedruckter Zeitungen zu beschreiben. Das einfache Vermitteln von Nachrichten ist es jedenfalls nicht, das kann das Internet dank seiner multimedialen Eigenschaften wesentlich besser. Weder in Punkto Bild, Film, Grafik noch in Punkto Textlänge gibt es hier Beschränkungen. Vielleicht sind es gerade die sinnlichen Elemente der Zeitungslektüre, die der Zeitung das Überleben in der Zukunft ermöglichen. Das Rascheln des Papiers, der Geruch, das Lebensgefühl, mit der Süddeutschen im Café zu sitzen. Das wird die Auflagenzahlen zwar nicht stabil halten, das völlige Verschwinden jedoch verhindern. Aufgabe der Journalisten und vor allem der Verleger wird es sein, neue Erlösmodelle zu finden. Denn wir befinden uns mitten in einem technologieinduzierten Medienwandel - und solche haben sich noch nie aufhalten lassen.

Donnerstag, 16. April 2009

Nixon, the horse?


Eigentlich war von Beginn an klar, dass dieser Film am Gros des deutschen Publikums komplett vorbei gehen würde: Ein zweistündiges Kammerspiel, dialoglastig und ohne die klassischen, aus unzähligen Hollywood-Epen bekannten dramaturgischen Volten. Das Frost/Nixon im Februar dennoch den Weg in die deutschen Kinos fand, zeigt das Filmemacher wie Verleiher den Glauben an ihre Kunst noch nicht verloren haben. An der Qualität ändert das Desinteresse der hiesigen Kinobesucher ohnehin nichts: Ron Howards Film ist ein kraftvolles Stück Politkino.

Ohne allzu tief in eine Analyse einzusteigen: Frost/Nixon zeichnet sich durch eine handwerklich weitgehend fehlerfreie Inszenierung aus, die derart viel Liebe zum Detail aufweist, dass sich der Zuschauer zuweilen an die Filme von Michael Mann erinnert fühlt. Dazu kommen tolle Darsteller: Frank Langella und Michael Sheen überzeugen auf ganzer Linie - und obschon Langellas Physis zuweilen etwas hölzern wirkt, ist die raumfüllende Präsenz, die er seiner Figur verleiht beeindruckend. Nicht nur Frost und sein Team werden vom eloquenten ex-Präsidenten kalt erwischt, auch der Zuschauer ertappt sich dabei, mit der persona non grata der jüngeren US-Historie zu sympathisieren. Bei Kevin Bacon, Darsteller des Präsidenten-Beraters Jack Brennan wünscht man sich sogar, Regisseur Howard und Autor Peter Morgan hätten seinen Part größer konzipiert. Denn Bacon zeigt nicht weniger als eine der besten Leistungen seiner Laufbahn.


Sicher: Der Film verlangt von seinem Publikum zwei Stunden konzentriertes Zuhören und Hinsehen. Das Skript schafft es aber, die immensen politischen Konflikte aus Nixons Amtszeit in Grundzügen zu vermitteln, ohne zur trockenen Geschichtsstunde zu werden. Die edlen Bilder tun ihr Übriges. Und in manchen Momenten schafft es der Film sogar, eine subtile Reflexion der Mechanismen öffentlich-medialer Imagekonstruktion mit scharfem Witz zu kombinieren: Als sich Nixon von seinem Berater Brennan die Themen des Interviewmarathons vortragen lässt und hört, dass der letzte Teil "Nixon, the man" behandeln soll, antwortet der ungläubig: "Opposed to what? Nixon, the horse?"

Mittwoch, 15. April 2009

Slumdog Millionaire - Modernes Märchenkino


Eigentlich seltsam, wenn man nach der Lektüre zahlreicher Kritiken das Gefühl bekommt, einen Film verteidigen zu müssen, der erst vor wenigen Wochen mit 8 Oscars ausgezeichnet wurde. Darunter nicht zuletzt die Trophäen für den besten Film und die beste Regie. Und dennoch wurde Danny Boyles Slumdog Millionaire von diversen Feuilletons hart angegangen. Der Vorwurf: Der Film nutze die soziale Lage der Slumbewohner Mumbais als Kulisse für eine kitschige Romanze. Stehen lassen kann man das so nicht, denn als postmoderne Märchenerzählung zitiert der Film ganz einfach klassische Vorlagen, erzählt aber vor allem eine packende Geschichte.

Mal ehrlich: Nehmen wir "Hänsel und Gretel". Das Märchen erzählt von einem Geschwisterpaar, dass von den Eltern in den Wald geschickt wird, weil es nicht genug zu essen für die ganze Familie gibt. Sie kommen zum Hexenhaus, werden gefangen genommen und entkommen nach allerhand Abenteuern. Das Ganze findet ein Happy End, die Eltern schließen ihre Kinder wieder in die Arme. Kann sich jemand daran erinnern, dass irgendein Feuilletonist dem Autor den Vorwurf gemacht hat, die Armut der ländlichen Bevölkerung als pittoreske Kulisse für eine grausame Abenteuergeschichte auszunutzen? Vermutlich nicht. Und genau aus diesem Grund ist es wenig nachvollziehbar, warum Slumdog Millionaire, dessen Geschichte den klassischen Märchen-Plots sehr ähnlich ist, nicht ebenfalls das Recht haben sollte, seine Geschichte in einem Milieu anzusiedeln, das von Armut und sozialer Benachteiligung gekennzeichnet ist.

Hauptfigur des Films ist Jamal, ein Junge aus den Slums der indischen Mega-City Mumbai. Die Stationen seiner Sozialisation lauten Müllkippe, Unterwelt - und schließlich die glitzernde Fernsehwelt. Denn Jamal ist Kandidat in der indischen Version von Wer wird Millionär? und schafft es entgegen aller Erwartungen, die Million zu gewinnen. Das ist aber nur die Rahmenhandlung. Denn warum Jamal in der Lage ist, alle Fragen korrekt zu beantworten, wird in zahlreichen Rückblenden erzählt, die sein Leben bis zum großen Tag im TV-Studio rekapitulieren. Und gerade in der ersten Stunde schafft es Boyles Film mit einem beeindruckenden Stilmix aus verwackelter Handkamera und klassischen Panorama-Einstellungen einen Sog zu entwickeln, der den Zuschauer förmlich auf die staubigen Straßen Mumbais zwingt. Zwar verzichtet der Film darauf, die Armut und die Gewalt der Slums allzu grafisch darzustellen, dennoch gelingt es ihm, die Lage der Ärmsten der Armen fühlbar zu machen. Damit nutzt der Film deren Situation aber nicht aus, vielmehr schaffen es Boyle und sein Kameramann Anthony Mantle mit den Mitteln des modernen Erzählkinos auf ein akutes Problem aufmerksam zu machen, ohne in einen dozierenden Gestus zu verfallen, der den Spaß am Zuschauen verdirbt. Slumdog Millionaire ist keine Sozialreportage, sondern ein Spielfilm.

Zugegeben: Der Film ist am besten in den Szenen, in denen er mehr Unterweltepos als Auftsteiger-Geschichte ist. Die Intensität, die er unter den Wellblech-Dächern der Hüttensiedlung entwickelt, kann er in den TV-Studio Szenen nicht ganz aufrecht erhalten. Was auch daran liegen kann, dass die grobkörnigen Gegenlichtaufnahmen vom Anfang gelungener sind, als die wohlkomponierten Hochglanzbilder in der zweiten Hälfte. Dass das Ende dann arg kitschig ist - geschenkt. Denn schließlich handelt es sich um ein Märchen. Kann sich irgendjemand daran erinnern, dass sich jemand über Schneewittchen abfällig geäußert hat, weil das Ende kitschig ist? Slumdog Millionaire hat darunter gelitten, dass viele Filmkritiker enttäuscht waren, weil er nicht der Film war, den sie sich unter dem Titel vorgestellt haben. Und wahrscheinlich auch darunter, dass sich wirkmächtige indische Intellektuelle wie Salman Rushdie kritisch geäußert haben, weil Menschen in den indischen Ghettos mit dem Begriff "Slumdog" herabgewürdigt würden. Gut zu wissen, dass das internationale Kino-Publikum gegenüber dem wilden Genre-Mix weniger Vorurteile hatte und Boyle einen Blockbuster beschert hat.

Dienstag, 14. April 2009

Richard Avedon - Porträt und Reportage

US-Fotograf Richard Avedon (1923-2004) ist vielen in erster Linie für seine Porträts bekannt. Vor allem für seine Serie In the American West sowie seine zahlreichen Fotografien prominenter Künstler ist er zu Recht auch heute noch viel gerühmt. Das die Aufnahmen in der Tat eindrucksvoll sind, kann man am Porträt Pablo Picassos sehen. Noch beindruckender sind aber in vielen Fällen Avedons Reportage-Fotografien. Als Beispiel dafür dient vor allem sein Portfolio aus dem Louisiana State Mental Hospital von 1963.

Wenige Aufnahmen sind in der Lage, so eindrucksvoll zu verdeutlichen, dass Fotografie zwar einerseits ein penetrierendes Medium ist, dass in die Privatsphäre der Fotografierten eindringt, andererseits aber auch das Potenzial besitzt, mitfühlend und empathisch das Leid der abgelichteten Personen einzufangen. Und zugleich Sozialkritik zu üben. Denn wenn Avedons Portfolio eines entblößt, dann nicht die Hilflosigkeit der Patienten, sondern die katastrophalen Zustände in dem vermeintlichen Sanatorium. Die Aufnahmen sind damit vor allem eindrucksvolle Nachweise der ästhetischen Kraft und der gesellschaftlichen Relevanz des Mediums Fotografie.

Donnerstag, 9. April 2009

U.N.K.L.E. - Be There



Eines der wenigen narrativen Musik-Videos. Eine rätselhafte Kurzgeschichte mit Anleihen bei Edgar Allan Poe, Clive Barker und Paul Auster. Sehens- und hörenswert zugleich - auch wenn die fünf Minuten mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten. Geht es bei echten Kunstwerken nicht genau darum?

Night of the Living Dead


Ein Klassiker wird in diesem Jahr 40, doch sein Geburtstag war den etablierten Filmzeitschriften offenbar keine Erwähnung wert. 1968 brachte George A. Romero Night of the Living Dead in die amerikanischen Kinos und veröffentlichte damit einen stilbildenden Meilenstein. Das US-Kino war danach nicht mehr dasselbe. Romeros Film erzählte eine unerhört obszöne Geschichte, formulierte eine scharfe Kritik an pauschalem Schwarz-Weiß Denken und dekonstruierte die Konventionen des klassischen Hollywood-Films. Und hat damit bis heute nichts von seiner Aktualität verloren.

Die Geschichte von Night of the Living Dead ist schnell erzählt: Ein junges Geschwisterpaar besucht einen Friedhof. Dort wird es von einem alten Mann angegriffen, einem lebenden Leichnam. Der junge Mann kommt ums Leben, die junge Frau kann fliehen und sucht Zuflucht in einem Landhaus. Dort trifft sie auf eine Gruppe weiterer Flüchtlinge. Gemeinsam verschanzen sie sich und bekämpfen die rasch anrückende Horde lebender Toter. Was bitter nötig ist, denn wie sich schnell heraus stellt, werden diese von einem Hunger nach menschlichem Fleisch angetrieben. Keine guten Aussichten.

Seit seiner Premiere sind unzählige Interpretationen zu Night of the Living Dead veröffentlicht worden. Die Bekannteste: Der Film sei eine Allegorie auf den Vietnam-Krieg und kritisiere mit seiner exzessiven Gewaltdarstellung die Übergriffe der US-Soldaten auf die vietnamesische Zivilbevölkerung. Aber: Wer Romeros Film auf diese Lesart beschränkt, der ignoriert, dass er viel mehr leistet, als ein düsterer Kommentar zu den politischen Umständen seiner Zeit. Night of the Living Dead ist ein selbstreflexiver Horrorfilm, der die Grenzen des Genres sprengt, indem er Versatzstücke anderer Genres aufnimmt, dekonstruiert und ihre Konventionalität entlarvt. Er ist eine Reflexion über das klassische Thema des Horror- und Science Fiction Kinos: Verhandelt werden keine konkreten politischen Bezüge, sondern die Auseinandersetzung zwischen der eigenen kulturellen Identität und dem fremdartigen kulturell Anderen. Und genau diese Verhandlung verleiht dem Film seinen zeitlosen Charakter und ist der eigentliche Grund, warum er seinen Platz im Filmarchiv des Museum of Modern Art zu Recht besitzt.

Romeros Film führt die narrativen Konventionen des klassischen Hollywood-Kinos vor. Dabei bedient er sich in erster Linie der Struktur der Western der 30er und 40er Jahre wie John Fords Stagecoach. Bekannte Versatzstücke werden durch Variation oder völlige Auslassung in den Vordergrund gerückt. So handelt es sich beim Protagonisten Ben um einen Schwarzen. Als Variante der klassischen Sheriff-Figur behält er als einziger einen ruhigen Kopf und bemüht sich, der Lage rational Herr zu werden. Der Rückzug ins Landhaus, das Verschanzen und die Abwehr der Angriffe der Untoten rekurrieren auf das Grundmuster von Fords Belagerungswestern: Das Haus als Wagenburg, die eingeschlossene Gruppe in der Rolle der tapferen Siedler und die lebenden Toten als die aggressiven Indianer. Night of the Living Dead verdeutlicht hier, auf welcher Freund-Feind Rhetorik viele klassische Hollywood-Filme basieren.

Und genau an dieser Stelle liegt Romeros Geniestreich: Denn durch ihren Status unterlaufen die Zombies die klare Schwarz-Weiß Malerei des Western-Kinos. Sie sind nicht tot, nicht lebendig, sondern un-tot. Sie bewegen sich in einer terminologischen Grauzone, welche die eindeutige Identifizierung als Freund oder Feind obsolet werden lässt. Deutlich wird diese Strategie, als der Bruder vom Anfang des Films als Zombie wiederkehrt und seine Schwester angreift. Oder auch, wenn ein kleines Mädchen wieder aufersteht und ihre Mutter tötet. Night of the Living Dead nimmt 1968 die Entwicklungen des amerikanischen Horrorkinos der 70er Jahre voraus: Die Bedrohung kommt nicht länger von Außen, sondern erwächst aus der Mitte der Gesellschaft.

Die Figuren in Romeros Debütfilm sind Repräsentanten der amerikanischen Wohlstandsgesellschaft und als solche in der Welt des Films einer simplen Freund-Feind Logik verhaftet. Sie reagieren mit Gewalt auf die Zombies. Gewalt ist das folgerichtige Resultat einer Logik, die auf Ausgrenzung basiert. Und was nicht sozial ausgegrenzt werden kann, wird ausgemerzt. Beunruhigend nah an unsere Wirklichkeit kommt diese selbstreflexive Analyse klassischer Hollywood-Erzählmuster übrigens am Ende des Films. Eine Bande Rednecks, auf der Jagd nach Zombies, hält Ben irrtümlich für einen Zombie und erschießt ihn. Ben, der Schwarze, und die Zombies werden eins. Die simple und verheerende Logik der Ausgrenzung, des Rassismus und der Gewalt ist im Kino selten eindrucksvoller veranschaulicht worden. Ganz nebenbei kommentiert der Film so auf bitter-ironische Weise auch die Konventionalität des typischen Horrorfilm-Endes: Durch Ausschalten des "Monsters" wird die gestörte Ordnung wieder hergestellt.

Night of the Living Dead ist also ein Appell zur Konstruktion von Filmerzählungen, die auf einer anderen Logik beruhen. Und mehr noch: Ein Appell, soziale Gemeinschaften auch in Wirklichkeit auf den Prinzipien von Toleranz und Dialog aufzubauen. Damit weist der Film weit über sich selbst und das Kino hinaus. Und erbringt ganz beiläufig den Beweis, dass (Film)Kunst präzise Aussagen über die Welt treffen kann - auch in fantastischen Szenarien und ohne dabei in einen dozierenden Gestus zu verfallen.