Sonntag, 26. Juli 2009

Grenzüberschreitendes Genrekino: Martyrs


Martyrs ist einer dieser Filme denen ein Ruf vorauseilt, der zuerst einmal zurück schrecken lässt. Düster und dreckig sei der Film. Und vor allem so brutal, dass es einer Mutprobe gleichkomme, ihn bis zum Ende anzusehen. Folterkino. Torture Porn. Seit Eli Roths Hostel-Filmen haben sich diese Etiketten leider zu Floskeln entwickelt, die von Kritikern aus Bequemlichkeit und von Marketing-Fachleuten zur Steigerung der Verkaufszahlen verwendet werden. Um die Filme zu beschreiben, geschweige denn zu analysieren, taugen sie indes wenig. Denn war Hostel schon mehr als simple Genre-Kost, trifft das auf Pascal Laugiers Martyrs erst recht zu.

Der Anfang ist Stakkato. Gleich das erste Bild des Films erzeugt Unwohlsein: Ein weinendes kleines Mädchen, der Körper mit Wunden und Abschürfungen übersät, stolpert über eine menschenleere Straße. Offensichtlich ist es auf der Flucht. Und was ihm angetan wurde, will man sich lieber gar nicht vorstellen. Drumherum verfallende Industriebauten, Rost, zerschlagene Scheiben. Das Thema ist Verfall, Niedergang, Tod. Dann ein harter Schnitt. Wir sehen grobkörnige, mit Handkamera gefilmte Aufnahmen aus einem Klinikarchiv. Offenbar ist das Mädchen in ein Krankenhaus aufgenommen worden. In der Klinik freundet es sich mit einer gleichaltrigen Patientin an. Und der am Genre geschulte Zuschauer merkt gleich: Irgendetwas stimmt hier nicht. Wieder ein Sprung: Eine Familie beim Frühstück. Die Stimmung ist gut, die Gespräche typisch für die bürgerliche Mittelschicht. Sympathische Menschen denkt man noch, als es an der Tür klingelt. Davor steht eine junge Frau mit Schrotflinte.

Ist es auch nicht einfach, aus diesen Fragmenten einen Sinnzusammenhang zu konstruieren, so drängt sich aufgrund bekannter Genre-Versatzstücke doch der Verdacht auf, es mit einer klassischen Revenge-Thematik zu tun zu haben. Zumal sich bald heraus stellt, das sich hinter der Fassade der 08/15-Familie Abgründe verbergen. Fügen sich die Mosaikstücke traumatische Kindheitserlebnisse, Folterkeller, Rachemord noch zu einem schlüssigen und aus diversen Genrewerken bekannten Gesamtbild, wechselt Martyrs mit dem Auftauchen einer seltsamen alten Mystikerin samt Entourage allmählich das Gleis.

Die letzte halbe Stunde ist brachial und in der Tat schwer zu ertragen. Klar, man weiß wofür der klinische Folterkeller gedacht war, bekommt es aber nun vor Augen geführt. Wer blutige Exzesse sucht, ist hier indes falsch. Und das gilt auch für diejenigen, die erwarten, dass sich die weibliche Hauptfigur im Stile eines heroischen Empowerment erfolgreich gegen ihre Misshandlung zur Wehr setzt. Es sind weniger die Schläge, nicht die Dunkelheit, die so schwer zur ertragen sind, sondern die totale Ausweglosigkeit. Laugier macht sich die Identifikation des Zuschauers mit seiner Heldin zunutze, um ihn an den Rand seiner Belastbarkeit zu führen. Die durch seine souveräne Regie erzeugten Realitätseffekte machen es dabei umso schwerer, sich von dem Geschehen auf der Leinwand zu distanzieren.

Laugier lässt uns über die Motive der Folterer lange im Dunkeln. Und mit den Motiven offenbart sich auch das eigentliche Thema des Films erst ganz am Ende. Es geht um nichts weniger, als die Angst des modernen Menschen vor der eigenen Bedeutungslosigkeit. Es geht um das Bedürfnis, zu wissen, was nach dem Tod kommt und um die Befürchtung, dass dort nichts mehr ist. Es geht am Ende um den Sinn der Existenz. Die große Stärke von Martyrs ist, dass er sich einer Antwort - auch eine Spekulation gibt es nicht - enthält. Aber allein die Verzweiflung über das eigene Unwissen führt am Ende dazu, dass der Zuschauer paradoxerweise, so sehr ihm das verbrecherische Tun der Folterer bewusst ist, eine Spur Sympathie für deren Motiv entlockt.

Der Horror von Laugiers Film ist am Ende nicht die gezeigte Gewalt, sondern die gedankliche Radikalität und der Mut, den Zuschauer ohne tröstende Geste mit seinen Grübeleien allein zu lassen. Martyrs ist ein Film, der Viele noch Tage nach dem Anschauen begleiten dürfte. Denn wie viele andere Ausnahmefilme lässt er sich nicht einfach konsumieren. Er macht es unabdingbar, eine eigene Position zu seinem Thema einzunehmen - oder die bereits bestehende Position zu hinterfragen. Martyrs fordert heraus, ist tatsächlich eine Mutprobe. Aber nicht weil es gilt, endlose Leinwandbrutalitäten auszuhalten, sondern weil der Film nur Jenen wirklich zuzumuten ist, die es aushalten, dass Überzeugungen und Gewissheiten einer harten Probe unterzogen werden.

Freitag, 24. Juli 2009

Luftnummern und Sommerlöcher

Spiegel Online hat die "Nachricht" als erstes, die Süddeutsche zog heute in ihrer Online-Ausgabe nach. Und sogar die Bild-Zeitung platzierte das Thema heute ganz vorne. Die Geschichte: Tagesschau Chefredakteur Kai Gniffke und ARD-Hauptstadtstudio-Chef Ulrich Deppendorf kabbeln sich im Tagesschau-Blog. Der "Streit" dreht sich um das Eingeständnis von Gniffke, dass die Tagesschau in einer ihrer letzten Ausgaben ausschließlich Themen behandelt hätte, die nur dank der dem Sommerloch geschuldeten nachrichtenarmen Zeit einen Weg in die Sendung gefunden hätten. Originalzitat: "Alles reine Kann-man-machen-Nummern."

Offensichtlich leidet aber nicht nur die Tagesschau unter dem Sommerloch. Das es Redakteuren zweier großer deutscher Nachrichtenportale einfällt, ein solches Null-Thema auf ihre Seiten zu hieven, kann nur bedeuten: Es gab gerade nichts anderes. Der Nachrichtenwert einer Meinungsverschiedenheit zweier Medienmacher, die in der Bevölkerung ohnehin kaum jemand kennt, dürfte kaum messbar sein. Nichts gegen mediale Selbstkontrolle und selbstreflexive Berichterstattung. Aber wenn dabei Geschichten konstruiert werden, die keine sind, dann können wir darauf verzichten.

Donnerstag, 23. Juli 2009

Gebührenverschwendung? Gebührenverschwendung!

Das ZDF Heute-Journal hat ein neues Studio. Insider nennen es die "grüne Hölle", ob der ach so revolutionären "green screen"-Technologie. Natürlich hat das modernisierte Studio einige Millionen gekostet. Und das zu Recht, obwohl sich um die Kosten eine massive Debatte entzündet hat. Aber: Auch die öffentlich-rechtlichen Sender müssen mit der Zeit gehen, müssen investieren, um für die Zuschauer interessant zu bleiben. Der Vorwurf lautet: Gebührenverschwendung.


Ich würde unter Gebührenverschwendung aber weniger die Investitionen ins neue Studio verbuchen, sondern eher die Summen, welche die begleitende Werbekampagne gekostet haben dürfte. Nicht nur, dass auf allen relevanten News-Portalen massiv Bannerwerbung geschaltet wurde, auch im Print waren die Werber nicht untätig. Eine Banderole um die bundesweit erscheinende Tageszeitung Die Welt dürfte auch in Zeiten der Wirtschaftskrise nicht ganz billig sein. Und ein aufwändig gestaltetes Beilagenheft für den Spiegel dürfte sogar noch wesentlich gewesen sein.


Das Problem an diesen Werbemaßnahmen ist außerdem, dass sie fast ausschließlich in Medien für das "neue" Heute-Journal warben, aus deren Leserschaft sich auch das Stammpublikum der Sendung rekrutieren dürfte. Erschließung neuer, vielleicht auch jüngerer Zielgruppen: Fehlanzeige. Jene Fernsehzuschauer aber, die bislang das Heute-Journal gesehen haben, werden das auch weiterhin tun - und das neue Studio so oder so bemerken. Restaurants würden sich hüten, Stammgästen, die immer das gleiche Gericht bestellen, Werbung für eben dieses Gericht so massiv zu präsentieren.


Ganz davon abgesehen: Besagte Spiegel-Beilage reiht das neue Studio in eine Kette von Höhepunkten der Mediengeschichte - wie den Buchdruck oder den Telegrafen - ein. Böswillig könnte man dazu sagen: Gebührenverschwendung trifft Größenwahn.

Montag, 8. Juni 2009

Wohltuender Realismus - endlich!

Wollte man zählen, wie oft die klassischen Printmedien in den letzten Wochen und Monaten in den Tod geredet und geschrieben wurden - man müsste sich zusätzliche Finger, Hände und Arme anoperieren lassen. Die Vorsichtigen sind besorgt wegen der wachsenden Bedeutung des Internets und befürchten einen damit einhergehenden Qualitätsverlust des Journalismus. Als ob die Güte eines Textes und die Gründlichkeit einer Recherche tatsächlich vom publizierenden Medium abhingen. Die Apokalyptiker unter den Journalisten sehen ihre Gattung gar im Aussterben begriffen und würden das Rad der Zeit am liebsten zurück drehen.

Wie schön ist es da zu merken, dass es noch realistische Stimmen gibt. Diejenigen, die ganz einfach sehen, dass wir mitten in einem tiefgreifenden Medienwandel stecken, dessen Ende und Ergebnis wir noch nicht abschätzen können, der aber sicher nicht den Untergang des Qualitätsjournalismus bedeutet. Einer von diesen Köpfen ist offenbar Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung.
Programmatisch betitelt "Haltung bewahren!" begreift sein in der SZ Online-Ausgabe erschienener Text zum Thema den Medienwandel vor allem als Herausforderung an die Verleger und Journalisten:

"Selbst der Philosoph Jürgen Habermas und Dieter Grimm, der frühere, für die Pressefreiheit zuständige Bundesverfassungsrichter, haben für eine Staatsfinanzierung von Zeitungen geworben. Sie glaubten und glauben an die existentielle Not von Zeitungen - und ihre Antwort darauf ist eine fast verzweifelte demokratische Liebeserklärung. Doch die deutschen Zeitungen brauchen kein Staatsgeld. Sie brauchen Journalisten und Verleger die ihre Arbeit ordentlich machen. Sie brauchen Journalisten, die neugierig, unbequem, urteilskräftig, selbstkritisch und integer sind. Sie brauchen Verleger, die einen solchen Journalismus schätzen, die also von ihren Zeitungen mehr wollen als Geld, die stolz sind darauf, dass sie Verleger sind; und denen dieser Stolz mehr bedeutet als zwei Prozent mehr Gewinn. Und sie brauchen Leserinnen und Leser, denen die gute journalistische Arbeit etwas wert ist - womöglich viel mehr als die Abo-Kosten von heute, um so einbrechende Anzeigenerlöse auszugleichen."

Das Fazit: Anstatt sich davor zu fürchten, was die Zukunft wohl bringen mag, sollten Medienschaffende diese Zukunft aktiv mit gestalten. Nur selbstbewusste Journalisten sind in der Lage, Texte und Bilder zu schaffen, die Leserinnen und Leser interessieren und fesseln. Vor allem aber: Nur Journalisten, deren Budget es erlaubt, können diese Bilder und Texte aus Orten zusammen tragen, von denen es spannende, traurige, glückliche oder Wut auslösende Geschichten zu erzählen gibt. Anstatt sich vorrangig über Marktchancen und Medienkonkurrenz Gedanken zu machen, sollten Verleger also lieber in die Stärke ihrer Redaktionen investieren.

Wo diese Redaktionen ihre Inhalte dann veröffentlichen wird die Zeit zeigen. Und auch ein Geschäftsmodell wird die Zeit wohl bringen, denn wenn die Zeitung als Medium endgültig zu teuer geworden ist und vom Markt verschwindet, dann wird die Lesermasse zwangsläufig ins Netz wandern. Vor allem, wenn neue Technologien das Lesen von elektronischen Texten erleichtern. Denn nur ein Narr kann annehmen, dass das Surfen im Web in 5 oder 10 Jahren noch genau so aussieht wie heute. Wo aber die Lesermasse ist, da wollen auch die Anzeigenkunden sein. Und so werden die Werbeerlöse auch in elektronischen Medien wohl steigen. Es sei denn, der Journalismus hat sich bis dahin selbst beerdigt.

Freitag, 8. Mai 2009

Auflösungserscheinungen im Lokaljournalismus


Wer als freier Mitarbeiter für den Nordkurier arbeitet, dem blieb in den letzten Tagen nichts anderes übrig, als ein Papier mit dem Titel "Rahmenvereinbarung über die Freie Mitarbeit" zu unterschreiben. Darin wird ein völlig neues Arbeitsprinzip für die freiberuflichen Autoren festgeschrieben: Die Redaktion des Nordkurier nimmt ab sofort keine angebotenen Artikel und Fotos mehr an, sondern schreibt auf einer Internetplattform aus, welche Termine etwa zu besetzen und welche Themen zu bearbeiten sind. Die Freien können sich dann um diese ausgeschriebenen Jobs bewerben. Und zwar mit Angabe ihrer Honorarvorstellung. Ein Schelm wer denkt, dass hier Kalkül dahinter steckt. Denn das es hier zu einem ruinösen Preiskampf kommen wird, ist mehr als wahrscheinlich.
Schlimmer als diese bizarre Prozedere, das nicht nur Ausdruck einer Geringschätzung des Berufsbildes des freien Lokaljournalisten ist, sondern vor allem auch jegliche Eigeninitiative der Freiberufler überflüssig macht, sind jedoch die Aussagen des Geschäftsführers des Kurierverlages, Lutz Schumacher, dokumentiert in der SZ vom 8. Mai 2009. Im Verbreitungsgebiet des Nordkuriers gebe es kaum professionelle Freie, die von ihrer Arbeit leben müssten. Für den Verlag arbeiteten in erster Linie Schüler, pensionierte Lehrer und Hausfrauen. "Mit denen kann man es ja machen", drängt sich als gedankliche Fortsetzung auf.
Die zentrale Frage, die sich stellt lautet: Wie will der unter chronischem Auflagenschwund leidende Nordkurier auf Dauer seine Stellung als regionale Qualitätszeitung halten, wenn der Verlag zum einen keine ausgebildeten Redakteure und Autoren beschäftigt, die handwerklich gut geschriebene Geschichten ins Blatt heben? Und wenn er gleichzeitig seine freien Laien mit offenkundiger Geringschätzung behandelt. Offenbar kommt es der Verlagsleitung nicht mehr auf die Qualität der Zeitungsinhalte an. Vielmehr erwecken Schumachers Aussagen den Eindruck, dass es dem Leser seiner Meinung nach sowieso nicht auffällt, wie gut die Texte geschrieben sind. Folgt man dieser Logik, braucht eine Lokalzeitung tatsächlich keine professionellen Journalisten mehr.
Fazit: Die aktuell schwierige Situation der Tageszeitungen führt bei manchen Verlagsmanagern offenbar dazu, dass sie den Glauben ans eigene Produkt verlieren. Was sich hinter den Argumenten von Lutz Schumacher verbirgt, ist nichts anderes, als ein verlegerischer Offenbarungseid. Auf den durch das Internet ausgeübten Druck weiß man sich nur noch zu helfen, indem man die Qualität opfert und auf kostengünstige Inhalte setzt. Das sich die Zeitung dadurch selbst abschafft, fällt da kaum auf. Wenn es etwas gibt, mit dem die Tageszeitung ihre Relevanz unterstreichen und ihre Leser von der Kompetenz der Redaktion überzeugen kann, dann ist es inhaltliche Qualität. Dafür braucht die Redaktion aber professionelle Autoren. Das gilt für bundesweit erscheinende Qualitätszeitungen wie die Süddeutsche und die FAZ, aber auch für regionale und lokale Blätter wie den Nordkurier. Zeitungen, die wie letzterer verfahren, beschleunigen den Sturz in die Bedeutungslosigkeit. Man kann nur hoffen, dass die Verlagsbranche ihr Selbstbewusstsein nicht völlig verliert, sondern dass sich hier noch Visionäre finden, die erkennen, dass Investitionen in Qualität der einzig Erfolg versprechende Weg sind.

Donnerstag, 7. Mai 2009

Intelligentes Genre-Kino: Eden Lake


James Watkins Eden Lake schafft etwas, das nur wenige Horrorfilme hinbekommen: Er verbindet weitgehend klassisches Genre-Kino mit einer zutiefst pessimistischen Bestandsaufnahme der sozialen Probleme moderner Industriegesellschaften. Damit steht der Film in der Tradition des Horrorkinos der 70er Jahre, mit dem er eine weitere Gemeinsamkeit teilt: Er ist alles andere als einfach zu verdauen.

Das britische Horrorkino hat in den letzten Jahre eine Reihe formidabler Produktionen hervorgebracht: Sowohl Michael Bassetts Wilderness als auch Christopher Smiths Severance, vor allem aber Neil Marshalls The Descent waren handwerklich weit überdurchschnittlich und erzählten darüber hinaus Geschichten, die wie nebenbei gesellschaftlich relevante Themen verhandelten. Eden Lake beweist erneut, dass auch das populärkulturelle Genre-Kino ein Ort sein kann, an dem Thesen formuliert und durchgespielt werden können. Denn James Watkins hat einen Film über Klassen- und Milieugegensätze gedreht, über die Unfähigkeit unterschiedlicher sozialer Milieus, miteinander zu kommunizieren. Freilich ohne dabei das Genre zu verraten, denn Eden Lake macht in jeder Einstellung klar, dass es sich um einen Horrorfilm handelt. Kein Wunder eigentlich, denn hinter der Kamera stand mit Christopher Ross und David Julyans just jenes Duo, dass schon The Descent mit eindrucksvollen Bildern versorgt hat.

Die Geschichte ist schnell skizziert: Das glücklich verliebte Pärchen Jenny (Kelly Reilly) und Steve (Michael Fassbender) fährt zu einem Wochenendtrip aus der Stadt aufs Land. Ihr Ziel: der titelgebende Eden Lake. Kaum angekommen, geraten die beiden mit einer Clique Dorfjugendlicher aneinander. Der geübte Zuschauer ahnt es schon: Zwischen beiden Parteien kommt es zu einem Konflikt, der im wahrsten Sinn des Wortes bis aufs Blut ausgetragen wird. Wenn Steve, der Prototyp des im Job erfolgreichen Globalisierungsgewinners, mit den Dorfbewohnern und besagten Jugendlichen spricht, prallen Welten aufeinander. Hier der physisch makellose, konsumverwöhnte Weltbürger - dort die ausgeschlossene Landbevölkerung mit schiefen Zähnen und aggressivem Habitus. Mit wenigen Einstellungen macht Eden Lake klar: Hier geht es um gesellschaftliche Spannungen, um eine Spaltung des Sozialen. Und besonders im Fokus steht das Unvermögen der völlig verschiedenen Milieus, miteinander in Kontakt zu treten. Kein Gespräch zwischen Steve und den Dorfbewohnern, dass nicht in verstimmter Atmosphäre endet. Watkins Film rekurriert in diesen Szenen deutlich auf Sam Peckinpahs Straw Dogs, in dem Dustin Hoffman als Mathematiker mit seiner Frau aufs englische Land zieht und mit den Menschen dort keine gemeinsame Ebene finden kann.

Gemäß den Genrekonventionen kommt es, wie es kommen muss: Die Situation eskaliert, Jenny und Steve müssen sich immer aggressiveren Attacken erwehren und nachdem zuerst "nur" die Statussymbole Handy und Auto abhanden gekommen sind, geht es schließlich um Leben oder Tod. Die Bilder von Jagd, Folter, Erniedrigung und Gewalt entwickeln in Eden Lake eine Wucht, die ihresgleichen sucht. Eli Roths Hostel-Filme oder die Produktionen des jungen französischen Horrorkinos zeigen mit Sicherheit deutlich explizitere Grausamkeiten - was ihnen jedoch fehlt ist die emotionale Ebene. Die großartigen Schauspieler und vor allem die glaubhaften Charaktere der Protagonisten sorgen in Watkins Film für ein Maß an extremer Identifikation mit den Figuren.

Hier eröffnet Eden Lake noch eine weitere Ebene: Das Spiel mit den Identifikationsgewohnheiten des Zuschauers. Denn wenn die Protagonistin im letzten Drittel des Films zurück schlägt, ist der Zuschauer so sehr auf ihrer Seite, dass er den jugendlichen Übeltätern ein möglichst grausames Ende wünscht. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt: Denn Watkins Film vergisst nie, die brutale Clique mit einem menschlichen Gesicht zu versehen. Wenn die Kamera in Nahaufnahme die verunsicherten Gesichter zeigt, die zum ersten Mal überhaupt einem anderen Menschen Gewalt antun und wenn sie zeigt, wie perfide der dominante Anführer die anderen zu Mittätern macht, dann geschieht das nicht aus Alibi-Gründen. Sondern um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um das namenlos Böse handelt, vielmehr um eine soziale Gruppe mit eigener Dynamik. Eden Lake schafft es meisterhaft, zu jeder Zeit die Täterrolle der Clique zu unterstreichen, zugleich jedoch deren Status als unmündige und orientierungslose Heranwachsende heraus zu arbeiten. Wenn Jenny am Ende den Jüngsten der Gruppe tödlich verletzt, konfrontiert der Film den Zuschauer daher mit einem moralischen Dilemma ohne Ausweg - und hält ihm so vor Augen, wie simpel die Identifikationsprozesse im klassischen Horror- und Actionkino ablaufen.

In seiner Weigerung, eindeutige Täter-Opfer-Zuschreibungen vorzunehmen, zitiert Eden Lake erneut Vorbilder aus den 70er Jahren. An John Boormans Deliverance erinnert nicht nur die Waldlandschaft, dessen Grundkonstellation "Moderne trifft auf ländliche Vormoderne" stand hier auch Pate. Strukturelles Vorbild ist in erster Linie jedoch Wes Cravens The Last House on the Left: Wenn Jenny am Ende aus dem Wald flüchten kann und erkennen muss, dass die Leute, bei denen sie unter gekommen ist, keine anderen sind, als die Eltern des Jungen, den sie umgebracht hat, dann ist das eine bitterbös-ironische Spiegelung des Finales von Cravens Klassiker - und kein simpler Plot-Twist aus Selbstzweck.

Mit Cravens Film teilt Eden Lake übrigens auch einen erdrückenden Pessimismus. Denn Watkins Film formuliert eine Bestandsaufnahme der sozialen Verfasstheit einer zerrissenen englischen Gegenwartsgesellschaft, die wenig Hoffnung auf morgen macht. Eine Verständigung ist nicht möglich und aus der Kommunikationsunfähigkeit erwachsen gewaltsame Konflikte, die Eden Lake im Kleinen durchspielt. Das es also im Grunde Kinder sind, die hier zu Gewalttätern werden, kann als Appell verstanden werden, im Sinne kommender Generationen an dieser Situation schnellstens etwas zu ändern.

Dienstag, 5. Mai 2009

Radikal-philosophisches Genrekino - The Wicker Man

Es gibt Klassiker, die wollte man schon immer mal gesehen haben. Irgendwie hat es sich aber nie ergeben. Entweder aus Mangel an Gelegenheiten, oder weil der Film schlicht nicht verfügbar war. Robin Hardys The Wicker Man ist so ein Fall. Wobei die Suche nach dem Film dadurch erschwert wurde, dass er nie in die deutschen Kinos kam. Umso erfreulicher, dass Kinowelt sich dazu entschlossen hat, den Film auf DVD zu veröffentlichen. Und das, obwohl es nicht mal eine deutsche Synchronfassung gibt. Aber der Aufwand hat sich allemal gelohnt, denn The Wicker Man ist ein Film-Erlebnis, das man nicht so schnell vergisst.

Die Geschichte des Films ist die typische Queste des Kriminalfilms: Ein britischer Polizist stellt auf der schottischen Insel Summerisle Nachforschungen im Fall eines verschwunden Mädchens an. Auf der Insel angekommen, macht besagter Seargent Neil Howie Bekanntschaft mit den verschrobenen Einwohnern der Insel. Nicht besonders kooperativ erweckt die seltsame Gemeinschaft den Eindruck, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Das dem tatsächlich so ist, wird niemanden überraschen. Das es dann aber doch ganz anders kommt, als zunächst erwartet, zählt zu den größten Stärken des Films.

Denn mit der zugrundeliegenden Struktur der klassisch kriminialistischen Suche des Detektivs nach der Lösung des Rätsels wird der Zuschauer auf der Ebene seiner antrainierten Sehgewohnheiten bedient. Aus der Perspektive von Howie erleben wir mit, wie der Polizist Hinweise sammelt und langsam aber sicher ein Bild zusammen fügt, das offenkundig Sinn macht: Die Einwohner sind in Wahrheit eine heidnische Sekte und haben das Mädchen entführt, um es bei einer barbarischen Zeremonie zu opfern. Der Film entlässt den Zuschauer keine Sekunde aus Howies Perspektive: dem Blick eines rationalistisch-logisch analysierenden Vertreters der Mehrheitsgesellschaft - der zudem streng gläubig ist.

Das ist der Grund dafür, das Howie an den Bräuchen der Inselbewohner schier verzweifelt. Freie Liebe, anschaulicher Sexualunterricht schon in der Grundschule und obskure Fruchtbarkeitsrituale kollidieren mit seinem starren christlichen Weltbild. Mit der Zeit führt das dazu, dass seine latenden Aggressionen aus ihm heraus brechen. The Wicker Man, und das macht den Film so einzigartig, zeigt Howies verständliche Abwehrreaktionen auf die religiösen Sitten von Summerisle - ohne sich jedoch über deren Protagonisten lustig zu machen oder diese auf andere Art und Weise abzuwerten. Howies Abneigung ist offensichtlich, nur macht sich der Film als solcher diese Wertung nicht zu eigen.

Obwohl Hardys Film strukturell eigentlich einem Krimi-Muster folgt, erinnert die latente Atmosphäre der Bedrohung an das Horror-Genre. Der Auftritt von Christopher Lee als Lord Summerisle, seines Zeichens Oberhaupt der Inselgemeinde, tut sein Übriges. Der wahre Horror von The Wicker Man entspringt aber keineswegs bekannten Plotwendungen oder traditionellen Genre-Kniffen, sondern eben jener Wertfreiheit, die dem bürgerlich-christlichen Zuschauer die Relativität des eigenen Weltbildes vor Augen führt - in einer Radikalität, die im zeitgenössischen Kino seinesgleichen sucht. Howie ist auf Summerisle komplett isoliert. Und trotzdem erscheinen die Inselbewohner nicht als Freaks. Hier sind einfach die Mehrheitsverhältnisse anders verteilt. Und deshalb hat der christliche Gott hier keine Bedeutung, ja bekommt den Rang, den im christlichen Weltbild die Götzen einnehmen.

Im Kern ist The Wicker Man also ein tief philosophischer Film und ein Generalangriff auf die Fundamente unserer bürgerlichen Weltsicht. Religion ist in der Logik der Erzählung wenig mehr als eine sozio-kulturelle Übereinkunft und keineswegs der Weg zu metaphysischer Erkenntnis. Der Film konfrontiert seine Zuschauer mit der simplen Erkenntnis: Es gibt keinen Gott. Es sein denn, Du konstruierst dir einen. Das Howies rationalistische Queste in der Logik dieser Erzählung scheitern muss, zeigt, wie ernst Regisseur Robin Hardy und Autor Anthony Schaffer ihr Thema nehmen - und das sie die filmische Intelligenz besitzen, dieses Thema auch auf struktureller Ebene zu spiegeln. Grandios auch die Symbolik des Films: Wenn Howie in einem Schülerpult eine an einem Nagel festgebundene Kakerlake findet, die verzweifelt versucht zu fliehen, sich dabei aber immer nur noch mehr verstrickt, ist das ein wunderbares Bild für die Lage der Hauptfigur selbst.


Aber auch das bereitet nicht wirklich auf das Ende des Films vor. Ohne zu viel zu verraten: Hardy und Schaffer ziehen die Radikalität ihres Ansatzes gnadenlos durch. Die gespenstische Stimmung des Finales macht nahezu sprachlos. Ob seiner hybriden Natur, des universalen Themas Religion und der großartigen Darsteller ist The Wicker Man dabei immer mehr als ein Horrorfilm. Allein deshalb wäre dem Film 36 Jahre nach seinem Kinostart ein größeres Publikum zu wünschen. Für alle, die ihre Klassiker-Sammlung komplettieren wollen und zugleich Lust auf ein intellektuelles Abenteuer haben, ist der Film ohnehin Pflichtprogramm.