Martyrs ist einer dieser Filme denen ein Ruf vorauseilt, der zuerst einmal zurück schrecken lässt. Düster und dreckig sei der Film. Und vor allem so brutal, dass es einer Mutprobe gleichkomme, ihn bis zum Ende anzusehen. Folterkino. Torture Porn. Seit Eli Roths Hostel-Filmen haben sich diese Etiketten leider zu Floskeln entwickelt, die von Kritikern aus Bequemlichkeit und von Marketing-Fachleuten zur Steigerung der Verkaufszahlen verwendet werden. Um die Filme zu beschreiben, geschweige denn zu analysieren, taugen sie indes wenig. Denn war Hostel schon mehr als simple Genre-Kost, trifft das auf Pascal Laugiers Martyrs erst recht zu.
Der Anfang ist Stakkato. Gleich das erste Bild des Films erzeugt Unwohlsein: Ein weinendes kleines Mädchen, der Körper mit Wunden und Abschürfungen übersät, stolpert über eine menschenleere Straße. Offensichtlich ist es auf der Flucht. Und was ihm angetan wurde, will man sich lieber gar nicht vorstellen. Drumherum verfallende Industriebauten, Rost, zerschlagene Scheiben. Das Thema ist Verfall, Niedergang, Tod. Dann ein harter Schnitt. Wir sehen grobkörnige, mit Handkamera gefilmte Aufnahmen aus einem Klinikarchiv. Offenbar ist das Mädchen in ein Krankenhaus aufgenommen worden. In der Klinik freundet es sich mit einer gleichaltrigen Patientin an. Und der am Genre geschulte Zuschauer merkt gleich: Irgendetwas stimmt hier nicht. Wieder ein Sprung: Eine Familie beim Frühstück. Die Stimmung ist gut, die Gespräche typisch für die bürgerliche Mittelschicht. Sympathische Menschen denkt man noch, als es an der Tür klingelt. Davor steht eine junge Frau mit Schrotflinte.
Ist es auch nicht einfach, aus diesen Fragmenten einen Sinnzusammenhang zu konstruieren, so drängt sich aufgrund bekannter Genre-Versatzstücke doch der Verdacht auf, es mit einer klassischen Revenge-Thematik zu tun zu haben. Zumal sich bald heraus stellt, das sich hinter der Fassade der 08/15-Familie Abgründe verbergen. Fügen sich die Mosaikstücke traumatische Kindheitserlebnisse, Folterkeller, Rachemord noch zu einem schlüssigen und aus diversen Genrewerken bekannten Gesamtbild, wechselt Martyrs mit dem Auftauchen einer seltsamen alten Mystikerin samt Entourage allmählich das Gleis.
Die letzte halbe Stunde ist brachial und in der Tat schwer zu ertragen. Klar, man weiß wofür der klinische Folterkeller gedacht war, bekommt es aber nun vor Augen geführt. Wer blutige Exzesse sucht, ist hier indes falsch. Und das gilt auch für diejenigen, die erwarten, dass sich die weibliche Hauptfigur im Stile eines heroischen Empowerment erfolgreich gegen ihre Misshandlung zur Wehr setzt. Es sind weniger die Schläge, nicht die Dunkelheit, die so schwer zur ertragen sind, sondern die totale Ausweglosigkeit. Laugier macht sich die Identifikation des Zuschauers mit seiner Heldin zunutze, um ihn an den Rand seiner Belastbarkeit zu führen. Die durch seine souveräne Regie erzeugten Realitätseffekte machen es dabei umso schwerer, sich von dem Geschehen auf der Leinwand zu distanzieren.
Laugier lässt uns über die Motive der Folterer lange im Dunkeln. Und mit den Motiven offenbart sich auch das eigentliche Thema des Films erst ganz am Ende. Es geht um nichts weniger, als die Angst des modernen Menschen vor der eigenen Bedeutungslosigkeit. Es geht um das Bedürfnis, zu wissen, was nach dem Tod kommt und um die Befürchtung, dass dort nichts mehr ist. Es geht am Ende um den Sinn der Existenz. Die große Stärke von Martyrs ist, dass er sich einer Antwort - auch eine Spekulation gibt es nicht - enthält. Aber allein die Verzweiflung über das eigene Unwissen führt am Ende dazu, dass der Zuschauer paradoxerweise, so sehr ihm das verbrecherische Tun der Folterer bewusst ist, eine Spur Sympathie für deren Motiv entlockt.
Der Horror von Laugiers Film ist am Ende nicht die gezeigte Gewalt, sondern die gedankliche Radikalität und der Mut, den Zuschauer ohne tröstende Geste mit seinen Grübeleien allein zu lassen. Martyrs ist ein Film, der Viele noch Tage nach dem Anschauen begleiten dürfte. Denn wie viele andere Ausnahmefilme lässt er sich nicht einfach konsumieren. Er macht es unabdingbar, eine eigene Position zu seinem Thema einzunehmen - oder die bereits bestehende Position zu hinterfragen. Martyrs fordert heraus, ist tatsächlich eine Mutprobe. Aber nicht weil es gilt, endlose Leinwandbrutalitäten auszuhalten, sondern weil der Film nur Jenen wirklich zuzumuten ist, die es aushalten, dass Überzeugungen und Gewissheiten einer harten Probe unterzogen werden.